Russische freiwillige Helferin erzählt von ihrer Arbeit im staatlichen Kinderheim

Wenn Iljuscha den langen dunklen Flur auf mich zukommt und mich so voller Erwartung, voller Freude anstrahlt, dann vergesse ich die lange Metrofahrt und das hässliche, kalt wirkende Gebäude, in das ich gekommen bin, mit seiner Krankenhausatmosphäre. So schnell es geht helfe ich Iljuscha dann, seine warme Mütze und seine Handschuhe überzustülpen, er nimmt mich bei der Hand und zieht mich stürmisch zum Ausgang.

Seit drei Jahren komme ich hierher, in das staatliche Heim an der Metrostation Konkowo, anfangs zwei Mal pro Woche und inzwischen täglich.

Ich bin nicht religiös, aber zutiefst dem Humanismus verpflichtet und nehme meine Patenschaften für Heimkinder sehr ernst.

Es ist ein fast heiliges Amt, das man hier ausüben darf: Man hat ja ein Kind vor sich, das bisher am Leben kaum teilhaben durfte, das sein Zimmer oder Bett kaum verlassen hat, dem Begegnungen weitestge­hend vorenthalten wurden. Wenn wir freiwilligen Helfer ein Kind zum ersten Mal begrüßen, zeigt es in der Regel keine Reaktionen, seine Gesichtszüge sind regungslos und seine Augen ohne Ausdruck. Und nun darf man dieses Kind an die Hand nehmen und es behutsam hinaus ins Leben führen. Oft sehe ich dann in Iljuschas Gesichtsausdruck die Welt wie zum ersten Mal: Das Kitzeln im Bauch, wenn man auf dem Spielplatz wild schaukelt, die Freude, wenn ein anderes Kind dazu kommt und einem hilft, die Sandburg fertig zu bauen. Als ich Iljuscha mit in meine Wohnung nahm, um gemeinsam Kuchen zu backen, war er zum ersten Mal in einer persönlich eingerichteten Wohnung…

Seit zwei Monaten, seitdem in Konkowo auch eine Niederlassung des Zentrums eröffnet hat, bringe ich Iljuscha an drei Tagen die Woche zu Therapiestunden hierher. Hier lernt und entdeckt er so viel und alles mit staunender Ehrfurcht.

Diese Patenkinder entfalten sich vor einem wie eine Knospe, die im Zeitraffer aufgeht – das ist ein unglaublich kraftvoller Prozess, der auch in der Umgebung viel auslöst:

Auf den Spielplätzen rufen die Eltern nicht ängstlich ihre Kinder zu sich, wenn Iljuscha mit seinen spastischen Lähmungen mühsam auf sie zuwankt. Sie haben Ehrfurcht vor der konzentrierten Ernsthaftigkeit, die Iljuscha ausstrahlt, wenn er auf dem Spielplatz die Welt entdeckt. Viele der leiblichen Mütter der Heimkinder, die sich zurückgezogen hatten, ihre behinderten Kinder nur noch einmal im Monat besuchten, weil sie den Zustand ihres Kindes, sein leises Sterben nicht mehr ertragen konnten, wagen sich jetzt wieder zu ihnen und beteiligen sich als Freiwillige an unserem Patenprojekt. Vadim, mein Patenkind vor Iljuscha, wurde von seiner Familie zurückgeholt und lebt jetzt wieder zu Hause.

Ich habe mich inzwischen im Zentrum für Heilpädagogik zur Koordinatorin ausbilden lassen und leite jetzt Gruppen junger Patinnen und Paten an.

Hier habe ich meinen neuen Beruf gefunden. Als meine Tochter Ira selbständiger wurde und nur noch selten zur Therapie im Zentrum für Heilpädagogik musste, bin ich weiter zu den Elternschulungen gegangen, habe an vielen Vorträgen Anna Bitovas sowie an Fortbildungen teilgenommen, jede Neuerscheinung gelesen. Die Heilpädagogik fesselt mich. Jetzt, da der Schulabschluss meiner Tochter kurz bevorsteht, ist mir bewusstgeworden, dass sie ihren eigenen Weg gehen wird. Und ich? Plötzlich fühlte ich mich wie ohne Aufgabe. Als bei Ira damals eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert wurde, habe ich meinen Beruf als Maschinenbauingenieurin aufgegeben, um meine Tochter fördern zu können. Dabei habe ich gleichzeitig einen neuen Beruf erlernt, das wurde mir jetzt bewusst. Und dieser Beruf macht mich sehr glücklich.

Oksana Kolomina