Liebe Freunde von Iwanuschka,
ein seltsames und sicher nicht einfaches Jahr liegt hinter uns allen, in Russland wie in Deutschland. Und wir alle konnten in diesem Jahr am eigenen Leib oder zumindest an uns nahestehenden Personen beobachten, welches Gift Isolation für uns ist: Schleichende Auswirkungen wie die gelangweilt stumpfen Augen der Kinder und Jugendlichen zu Hause, die sich alleine mit ihren Schulaufgaben herumplagen und immer schwerer von digitaler Dauerberieselung abzuhalten sind; dieses klammheimliche Gefühl der Gleichgültigkeit, mit dem wir uns wattieren, um uns vor erneuter Enttäuschung zu schützen, wenn wieder gemeinsame Erlebnisse, Projekte, Reisen abgesagt werden müssen; das zunehmende Gefühl der Sinnlosigkeit, wenn die ohnehin so seltenen Besuche des Sohnes, der Tochter im Altenheim weiter eingeschränkt werden.
Zum Glück kennen wir es anders und haben Hoffnung auf baldige Besserung! Wir empfinden die Isolation als Ausnahme-, nicht als Dauerzustand.
Viele Menschen mit Behinderungen sind dieser Isolation aber dauerhaft ausgeliefert. In der Großstadt Moskau erleben Kinder das besonders krass, wenn sie nicht mit ihren Geschwistern in die gleiche Schule dürfen, weil diese Schule Kinder mit Behinderungen nicht aufnimmt, wenn sie nicht mit den anderen auf der Straße spielen können, weil es keinen Aufzug gibt und sie die Treppe nicht alleine benutzen können oder wenn da draußen gar niemand ist, der überhaupt ein Interesse daran hat, dass es dich gibt, der ein Leuchten in den Augen hat, wenn du lernst, nach etwas zu greifen, der in die Hände klatscht, wenn du es schaffst, deinen Kopf zu heben und der dir begeistert seine Arme entgegenstreckt, wenn du deine ersten Schritte machst. Letzteres ist der Dauerzustand für viele Menschen mit Behinderungen in Russland.
Das Zentrum für Heilpädagogik Moskau arbeitet schon lange daran, Menschen aus ihrer Isolation herauszuhelfen. Für die Kinder mit Behinderungen, die sonst zur Therapie ins Zentrum oder in eine seiner Unterorganisationen kommen, haben die Mitarbeiter mit großer Kreativität und Professionalität auf den Ausnahmezustand der Corona-Pandemie reagiert. Sie haben Onlineangebote und Beratungen geschaffen, häusliche Entlastungen für die Eltern eingerichtet und vieles mehr, um die neuen Einschränkungen erträglich zu machen. Dennoch sind lebendige Begegnungen und ein zuverlässiger Rhythmus gerade für Menschen mit Behinderungen durch nichts zu ersetzen.
Eine besondere Überraschung war es, dass die Mitarbeiter des Zentrums für Heilpädagogik den pandemiebedingten Ausnahmezustand nutzen konnten, ausgerechnet denen näher zu kommen und aus der Isolation zu verhelfen, die auch ohne Lockdown dauerhaft völlig isoliert leben: in geschlossenen Heimen hinter hohen Mauern oder Zäunen in staatlichen psychoneurologischen Internaten.
Alles begann Ende Februar letzten Jahres, als es in einigen dieser Internate im Raum Moskau zu einem Personalnotstand kam, weil zahlreiche staatliche Angestellte sich mit Sars-CoV-2 infiziert hatten, Kollegen in Quarantäne mussten und weitere zur Corona-Risikogruppe gehörten und nicht mehr arbeiten konnten. In dieser Notsituation baten die Leiter der staatlichen Einrichtungen das Zentrum für Heilpädagogik um Hilfe. Um die Gefahr einer Einschleppung des Virus in die Heime gering zu halten, organisierte das Zentrum ein Netzwerk freiwilliger Helfer, die bereit waren, für ein bis vier Wochen in einem der Heime zu wohnen. Auch das verbliebene staatliche Pflegepersonal wechselte in den Langzeitschichtbetrieb, und so wurde der Platz in den Heimen knapp. Daraufhin meldeten sich weitere Freiwillige aus dem Zentrum für Heilpädagogik, die bereit waren, ein Kind oder einen Jugendlichen aus einem Internat bei sich zu Hause aufzunehmen und sich hier mit ihm oder ihr in freiwillige Quarantäne zu begeben. Aufgrund der Notlage bekamen sie problemlos eine zweijährige Pflegevollmacht für das Kind, die sie berechtigt, dieses auch weiterhin zu sich zu nehmen, z.B. im Urlaub.
Sowohl im Zusammenleben mit den Heimkindern in der eigenen Wohnung als auch während der Langzeitschichten in den Internaten sind enge Beziehungen zwischen den Zentrumsmitarbeitern und den Heranwachsenden mit Behinderungen entstanden. Plötzlich war da jemand, der an ihnen ganz persönlich interessiert war und der sich freute, wenn das Kind etwas dazulernte. Mit vielen Heimbewohnern, die sich vorher kaum ausdrücken konnten, gelang es den Zentrumsmitarbeitern, das Makaton-System zu trainieren, das gestützt auf Gebärden, Symbole und das gesprochene Wort auch stark kommunikationseingeschränkten Menschen Verständigung ermöglicht.
Ein weiterer Corona-Faktor verstärkte die positive Entwicklung: Die sogenannten Trainingswohnungen des Zentrums für Heilpädagogik, in denen normalerweise junge Erwachsene mit Behinderungen unter der Woche leben und lernen, weitestgehend selbständig ihren Alltag zu bewältigen, um sich auf ein Leben in betreuten Wohngruppen vorzubereiten, standen leer. An den Wochenenden leben diese jungen Erwachsenen in ihren Familien.
Während des ersten Lockdowns im Frühjahr war der Betrieb in diesen Trainingswohnungen aber verboten. Gemeinsam mit Betreuern des Zentrums für Heilpädagogik zogen hier nun bereits volljährige junge Erwachsene aus den staatlichen Internaten ein. Mit der Zeit gewannen sie ihr neues fast selbständiges Leben in einer Wohnung so lieb, so dass sie auch nach dem Lockdown unter keinen Umständen wieder zurück in die Internate wollten.
Mit der juristischen Unterstützung des Zentrums für Heilpädagogik ist es zehn Jugendlichen im Sommer gelungen, zunächst Urlaub bewilligt zu bekommen, der ihnen jährlich zusteht, und so konnten sie mehrere Wochen zusammen mit den Zentrumsmitarbeitern im Sommerlager am Valdai-See verbringen. Diese Zeit brachte den Jugendlichen viele neue Erlebnisse, die sie in ihrem Heimleben nie machen konnten, und weckte in einigen ungeahnte Willenskräfte. Mit einer unerwarteten Hartnäckigkeit setzte sich die 18-jährige Anna bei den Mitarbeitern des Zentrums dafür ein, dass auch ihre Freundin Ira, mit der sie im Heim aufgewachsen war, das Heim verlassen und zu ihr kommen durfte. Ähnlich kämpfte der 19-jährige Dima mit Erfolg für seinen Freund Kolja.
Gleichzeitig war die neue Freiheit für die jungen Erwachsenen aber auch unglaublich anstrengend, vor allem im sozialen Miteinander, das sie nie gelernt hatten. Aus den Internaten brachten sie alte teilweise grausame Gewohnheiten mit, die immer wieder Oberhand in ihrem Umgang miteinander gewannen. Die Jugendlichen etablierten untereinander immer wieder die ihnen vertraute Hackordnung, zu der Täter, Mittäter und Opfer gehörten.
Nach dem Sommer konnten die inzwischen zehn Jugendlichen nicht zurück in die Trainingswohnung, denn hier wurde der reguläre Betrieb wiederaufgenommen. Aber es gelang, Sponsoren zu finden und vier Wohnungen im gleichen Haus anzumieten, auf die die Jugendlichen verteilt wurden, um in kleinen Gruppen die Hackordnung zu durchbrechen und intensiver an ihrem Umgang miteinander zu arbeiten. Jahrelange Gewohnheiten, die Sicherheit gaben, auch wenn sie grausam waren, brachen in dem neuen offenen Alltag weg und die Jugendlichen brauchten jetzt viel psychologische und auch psychiatrische Unterstützung, um mit der Situation umgehen zu lernen. Leider verweigerten die Internate die Herausgabe der Krankenakten, so dass sich die Zentrumsmitarbeiter auf kein Vorwissen über die Jugendlichen stützen konnten. Dafür begegneten sie ihnen unvoreingenommen und entdeckten mit ihnen vorsichtig gemeinsam deren Fähigkeiten, in einem zunehmend selbstbestimmten und doch sozial verantwortlichen Alltag zurecht zu kommen.
Inzwischen ist das Zusammenleben schon viel harmonischer geworden, die Wohngruppen laden sich gegenseitig ein und machen vorsichtig gemeinsame Unternehmungen. Auch formal konnte geklärt werden, dass sie nun die nächsten drei bis fünf Jahre in den betreuten Gemeinschaftswohnungen wohnen dürfen, bis das Sozialamt ihnen eigene Wohnungen zuteilt, die jedem jungen Erwachsenen in Russland zustehen, dem es gelingt, das Internat zu verlassen. Noch klagt das Zentrum für Heilpädagogik gegen die Internate, die bis jetzt noch drei Viertel der Renten zurückbehalten, obwohl die jungen Erwachsenen nicht mehr im Heim wohnen.
Aber alle zehn sind inzwischen auf gutem Weg in die Selbständigkeit: Dima und Kolja besuchen die Schule „Verch“ für Internatsabgänger, in der sie Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen nachholen dürfen, die ihnen bislang vorenthalten wurden. Dabei erweist sich insbesondere Dima als Techniktalent: er repariert unglaublich geschickt technische Geräte. Fünf Jugendliche machen eine Küchenhilfen- und Gastronomieausbildung bei der Köchin Marijanna Orlinkowa, die im neuen Zentrumsgebäude in Moskaus Stadtteil Konkowo die Mensa und einen Cateringservice mit jungen Erwachsenen mit Behinderungen aufbaut. Drei Jugendliche konnten bereits außerhalb des Zentrums Arbeit finden: Natascha arbeitet im Polytechnischen Museum, Sergej spült Geschirr in einem Restaurant in der Nähe, und Valentin arbeitet als Lagerist.
Auch die Jugendlichen, die nach dem Lockdown wieder zurück in die staatlichen Internate mussten, weil sie noch zu jung für betreutes Wohnen sind, konnten den Sommer im Sommerlager verbringen und besuchen weiter ihre Betreuer oder werden von ihnen besucht. Der Impuls, den die neuen Freundschaften und das persönliche Interesse ihnen gegeben haben, ist zum Glück nicht mehr rückgängig zu machen. In ihnen ist eine Entdeckerfreude erwacht, die sie anspornt, aus ihrem Schneckenhaus heraus zu kriechen und ihre neuen Freunde bei jedem Besuch mit einer neuen Fertigkeit zu überraschen. Sie waren auch schon in den neuen Wohngemeinschaften ihrer ehemaligen Internatsgefährten zu Besuch und haben jetzt eine Perspektive, wo sie einmal leben und arbeiten können, wenn sie groß genug sind.
Wir wünschen Ihnen alles Gute, vor allem Gesundheit und Zuversicht! Passen Sie auf sich und Ihre Lieben auf und lassen Sie uns gemeinsam von baldigen vielen schönen Begegnungen träumen.
Ihr Förderkreis Iwanuschka
i.A. Anna Feger