Rundbrief Mai 2020

Liebe Freunde von Iwanuschka,
seit 20 Jahren unterstützen wir mit Ihrer Hilfe die Arbeit des Zentrums für Heilpädagogik in Moskau, das in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen feiert. Eigentlich wollten wir Ihnen in diesem Rundbrief von den Jubiläumsfeierlichkeiten berichten, aber die Lage in Moskau ist von Freude in Sorge umgeschlagen.

In seiner Bestehenszeit hat das Zentrum für Heilpädagogik mit all seinen Nebenorganisationen tausenden Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen aus ihrer gefährlichen Isolation und gesellschaftlichen Vergessenheit verholfen: Die Beratung der Eltern behinderter Kinder, die zahlreichen Therapie- und Betreuungsangebote, das Netzwerk integrativer Kindergärten, integrativer Schulen, integrativer Ausbildungsstätten, die betreuten Wohnmöglichkeiten und Werkstätten für junge Erwachsene mit Behinderungen, die juristische Beratungsstelle und Mitwirkung in Gesetzgebungsprozessen, das Sommerlager, die Verbreitung heilpädagogischer Literatur und die Ausbildung junger Menschen zu gut geschulten HeilpädagogInnen hat nicht nur in der Moskauer Region, sondern russlandweit zivilgesellschaftliche Strukturen der Vernetzung geschaffen, die Menschen mit Behinderungen aus ihrer Isolation heraus in eine gesellschaftliche Teilhabe geführt haben.

Diese Isolation, in seiner eigenen Wohnung gefangen zu sein, allein ohne Hilfe, ohne Pause und soziale Kontakte 24 Stunden auskommen zu müssen – diese Isolation müssen viele Familien mit Kindern mit Behinderungen in Russland seit Jahrzehnten ertragen, wenn sie nicht von einem Netzwerk und Strukturen wie denen des Zentrums für Heilpädagogik profitieren.

Durch sehr strenge Ausgangssperren aufgrund der Corona-Pandemie erleben in Russland jetzt alle Menschen diese nervenaufreibende Isolation in extremer Form: Man darf in Moskau seine Wohnung nur verlassen, um Lebensmittel zu kaufen. Dazu muss man sich über eine Handy-App mit Passdaten und Foto registrieren, die auf die Standortbestimmungen des Handys zugreift. Man bekommt dann eine Registriernummer, die man im Supermarkt vorzeigen muss, um Lebensmittel zu erhalten. Das wird auch noch per Gesichtserkennung mit Videokameras überwacht. So wird man getrackt – und sanktioniert, wenn man sich nicht an die Vorschriften hält. Spaziergänge und Sport an der frischen Luft sind nicht erlaubt.

Arbeiten im Zentrum für Heilpädagogik geht im Moment nur online.

Die Mitarbeiter des Zentrums für Heilpädagogik dürfen nicht zu ihren Schülern, die Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen nicht zu ihren Therapiestunden. Das ist für die Familien gerade sehr belastend. Besonders machen sich unsere Partner in Moskau aber Sorgen um die langfristigen Folgen der Corona-Epidemie: abgebrochene Therapien und die Schäden eines zerstörten Netzwerkes zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen könnten irreparabel sein und zu einem Rückfall in die Isolation von Menschen mit Behinderungen und ihrer Angehörigen in Russland führen.

Mit allen Mitteln kämpft das Zentrum gegen diese Isolation an: Die Mitarbeiter und die zahlreichen Freiwilligen haben es sich zum obersten Ziel gemacht, Menschen mit Behinderungen und ihre Familien in der Quarantänezeit nicht im Stich zu lassen. Dazu bieten Psychologen, Ärzte und Heilpädagogen jetzt kostenlos Videoberatungen an, die auch für verunsicherte Eltern aus entlegenen Regionen Russlands oft eine Rettung darstellen, wenn in den chaotischen Zeiten von Corona große Verunsicherungen entstehen, gegen die die überlasteten medizinischen Systeme keine Unterstützung bieten.

Unterrichtet wird mit der tatkräftigen Unterstützung der Eltern auf Basis neuer Konzepte, die man buchstäblich über Nacht aus dem Boden stampfen musste.

Für die zuvor im Zentrum betreuten und behandelten Kinder und Jugendlichen haben die Mitarbeiter mit großem Aufwand Konzepte entwickelt, Einzel- und Gruppentherapien online durchzuführen, in denen die Eltern angeleitet werden, die Kinder zu begleiten oder sogar die Therapien mit ihren Kindern durchzuführen. So konnten sie ein völliges Aussetzen der Therapien verhindern, das für viele Kinder eine nicht wieder aufzuholende Entwicklungsverzögerung bedeutet hätte.

In besonders schwierige Situationen geraten Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, wenn ein alleinerziehendes Elternteil an Corona erkrankt und ins Krankenhaus muss. Dann bleiben sie alleine in der Wohnung zurück. Für solche Fälle sind die Pädagogen des Zentrums jetzt in ständiger Bereitschaft, ziehen zu dem betreffenden Kind in die Wohnung und betreuen es, bis das Elternteil wieder entlassen wird. So ging es zum Beispiel Nadeschda, die mit ihrer 22-jährigen Tochter Schenja alleine lebt und keine weiteren Verwandten hat. Schenja leidet an einem Gendefekt und kann nicht selbständig leben. Bis es fast zu spät war, zögerte Mutter Nadeschda es daher heraus, sich ins Krankenhaus mitnehmen zu lassen. Nach vergeblicher Suche, jemanden zu finden, der auf ihre Tochter aufpassen würde, wandte sie sich ans Zentrum für Heilpädagogik. Sofort kam eine freiwillige Helferin zu ihr nach Hause, fand sie bereits in apathischem Zustand vor und konnte schnell den Notarzt rufen. Während Nadeschda auf einer Intensivstation um ihr Überleben kämpfte, zog Marina bei Schenja ein und gab ihr so viel Sicherheit und Stabilität wie möglich, um die angstvolle Zeit durchzustehen. Dabei halfen ihnen auch die Therapiestunden des Zentrums über Videotelefonie, bei denen Schenja ihren vertrauten Pädagogen begegnen und mit ihnen singen konnte. Marina und Schenja hatten sich zum Glück nicht mit Covid-19 infiziert. Nadeschda geht es inzwischen wieder besser, und sie konnte zu ihrer Tochter zurückkehren, wo sie weiterhin von Marina unterstützt wird, bis sie wieder zu Kräften kommt.

In höchster Gefahr schweben derzeit Kinder mit Behinderungen, die in staatlichen Heimen leben. Mitarbeiter des Zentrums für Heilpädagogik nehmen jetzt so viele Kinder und Jugendliche wie möglich aus den Heimen in ihre Familien auf, weil sie wissen, dass diese Kinder unter den immer noch schlimmen Verhältnissen in den Heimen die Pandemie möglicherweise nicht überleben würden. So arbeiten die Mitarbeiter und viele freiwillige Helfer des Zentrums jetzt rund um die Uhr.

Gleichzeitig verzichten die meisten von ihnen auf Teile ihres Gehalts, und die Verwaltungsausgaben des Zentrums wurden bereits auf ein Minimum reduziert, da die immer knapper werden. Zu einem großen Teil finanzierte sich das Zentrum inzwischen aus Spenden aus der russischen Wirtschaft, doch die meisten Sponsoren stehen nun aufgrund der Coronakrise selbst vor Schwierigkeiten und mussten ihre Unterstützung einstellen. Es ist für das Fortbestehen des Zentrums elementar wichtig, das hochqualifizierte Kollektiv seiner Mitarbeiter zu halten. Doch selbst die reduzierten Gehälter konnten nur noch für April ausgezahlt werden.

Wir sind uns bewusst, dass auch unter Ihnen, liebe Spender, aufgrund der Krise viele an ihre finanziellen Grenzen geraten. Für das Zentrum für Heilpädagogik können aber auch ganz kleine Spenden zur Rettung beitragen, zumal der Rubelkurs stark gesunken ist und der Euro entsprechend viel wert. Wir und unsere russischen Partner sind Ihnen für jede Hilfe sehr dankbar!

Wir wünschen Ihnen alles Gute, vor allem Gesundheit und Zuversicht! Passen Sie auf sich und Ihre Lieben auf und kommen Sie gut durch diese sorgenvolle Zeit!

Ihr Förderkreis Iwanuschka
i.A. Anna Feger

Finanzbericht 2019

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