Bericht Ulrike Preuß

Im Rahmen eines sozialen Jahres begann ich im Winter 1996 in einem Kinderheim für Behinderte am Rande von Moskau zu arbeiten. Die Gebäude des Heims, von einem Zaun umgeben und nur mit Bescheinigung betretbar, liegen versteckt hinter einigen Fabriken am Waldrand, als schämten sie sich für ihr Dasein. Zweimal in der Woche lief ich dorthin, die ersten zwei Monate durch eine Schneewüste mit Tilo, später über eine Blumenwiese allein oder mit Anna.

Die ersten zwei Monate meiner Arbeit dort waren nicht einfach. Ich ging morgens aus dem Haus mit dem Gefühl „Ich kann nicht! Ich will nicht!“ im Bauch, aber mit dem Wissen, dass es nötig ist, zu diesen Kindern zu gehen. In der Metro habe ich immer gelesen, um nicht an das denken zu müssen, was mich erwartete. Doch auf dem halbstündigen Fußmarsch von der Metro zum Heim wurde die Ohnmacht immer größer, nur kehrt man ja so kurz vorm Ziel doch nie um…

Hat man das Wärterhäuschen mit den davor lungernden, herrenlosen Hunden passiert und öffnet die Tür zum ersten Korpus des „Internats“, schlägt einem schon der süßliche Geruch von Urin entgegen. In der Vorhalle, in die selten ein Kind kommt, sind die Wände bunt bemalt, während die anderen Zimmer steril weiß sind. Man hat uns einen Raum zugeteilt, in dem wir Spielsachen aufbewahren können, die wir von einem humanitären Hilfstransport haben. Mit einer Kiste Spielzeug bewaffnet geht’s los.

Mit Tilo zusammen arbeitete ich auf einer Station in der ersten Etage, wo sowohl Kinder sind, die nur im Bett liegen, als auch welche, die gehen können. Aber auch von denen, die sich mehr oder weniger aufrecht bewegen können, dürfen nur ein paar „Lieblinge“ das Bett oder Ställchen verlassen, das in der Mitte des Zimmers steht. Kinder, die das nicht kapieren und sich selbst aus ihrem Käfig befreien, werden eben angebunden.

Die Kinder sitzen tagaus, tagein in diesen Zimmern ohne Spielzeug, werden drei Mal täglich gefüttert und zwei Mal umgezogen. Ansonsten kümmert sich keiner um sie. Dadurch sind die Kinder unterentwickelt, kleinwüchsig und gestört. In vielen Fällen ist gar nicht mehr zu unterscheiden zwischen der Behinderung, die das jeweilige Kind in das Kinderheim geführt hat, und den Schäden, die durch das Existieren in demselben entstanden sind. Hospitalismus ringsum: das vorherrschende Geräusch in der Totenstille ist das rhythmische Klopfen von Kinderköpfen an Wände und Gitterbetten. Die Kinder müssen einen Drang haben, sich zu spüren, der bis dahin reicht, dass sie sich verletzen. Auf der anderen Seite scheint sie das Rhythmische ihrer Schaukelbewegungen zu beruhigen und zu entfernen von der elenden Realität.

Die meisten Kinder sind seit ihrer Geburt in Heimen gewesen, denn in die glückliche Gesellschaft der kommunistischen Sowjetunion passten keine Behinderten. So erzählten die Ärzte den Müttern, die ein behindertes Kind geboren hatten, das Kind sei menschenunähnlich und entwicklungsunfähig. Da die Mütter keine Gegenbeispiele kannten, glaubten sehr viele den Ärzten und gaben ihre Kinder ab. Zur Unterbringung der vielen Kinder wurden an den Rändern der Städte große Anstalten mit oft mehreren hundert Menschen eingerichtet. Seit dem Umbruch hat sich wenig geändert, weil es weiterhin kaum Beweise in der Gesellschaft gibt dafür, dass behinderte Menschen liebend und liebenswert sind.

In dem Kinderheim, in dem ich arbeitete, ist für jede Station eine Krankenschwester vorgesehen, aber wegen Personalmangels müssen sich häufig mehrere Stationen eine teilen. Des weiteren sind zwischen ein und fünf, im Normalfall drei Frauen ohne besondere Ausbildung anwesend, deren Aufgabe es ist, die Kinder zu füttern, zu waschen, sie umzuziehen und sich um ihr Wohlbefinden zu kümmern. Sie arbeiten 24 Stunden am Stück und haben dann vier mal 24 Stunden frei bis zum nächsten 24-Stunden-Marathon. Diese Arbeitszeiten führen natürlich dazu, dass diese Frauen sich möglichst wenig mit den Kindern befassen, um Kräfte zu sparen, denn eine Nacht und einen Tag kann keiner intensiv eine solche Arbeit tun. Da die Bezahlung gering ist, liegt die einzige Attraktivität dieses Jobs in der Arbeitszeitregelung mit den vier freien Tagen.

Außerdem gibt es auf jeder Station einen Raum, in dem ältere, schwächer Behinderte und Menschen leben, die wohl ihr Leben in dem Heim verbracht haben und daher stark gestört sind. Da sie es wohl selber nie anders erlebt haben und vom Personal ständig zu Drecksarbeiten gescheucht werden, sind sie oft sehr ruppig mit den Kindern.
Da wir uns nicht mit allen Kindern beschäftigen können, haben wir uns auf zwei Zimmer mit zu Anfang jeweils elf, später sieben „Insassen“ beschränkt. Zuerst heißt es, die Kinder von ihren naßgepinkelten Hosen und Hemden zu befreien, sofern sie das nicht schon selber in die Hand genommen haben und nackt im Bett oder Ställchen sitzen. Rundherum sieht man kleine Seen und gelegentlich braune Häufchen, mit denen die Kinder manchmal spielen oder sie zu essen versuchen. Windeln kennen sie nicht. Wir waschen die Kinder, wenn nötig, ziehen sie um, sofern man uns gestattet, frische Wäsche zu nehmen, und setzen sie zu dem Spielzeug auf eine Decke auf den Boden. Natürlich bleiben die Kinder selten auf der Decke, sondern kriechen lieber im Raum herum, untersuchen die Zimmerecken und versuchen, durch die Tür auf den Gang zu entwischen, wo für sie die große, unbekannte Welt anfängt.
Es ist schwer vorstellbar, dass diese kleinen, blassen Kinder mit den kurzgeschorenen Haaren und den bunten Anzügen alle älter als sechs Jahre alt sind, denn sie sehen aus wie Kleinkinder. Aber in „Internate“ kommen nur Kinder ab diesem Alter. Auf unserer, der Station für „liegende“ Kinder, sind die, die entweder wegen körperlicher Behinderungen wirklich nicht gehen können, und die, die es bis dahin einfach nicht gelernt haben zu gehen. Dabei muss man sich aber vor Augen halten, dass der Raum, auf dem sie gehen lernen könnten, aus der 1,5 m langen, weichen Matratze in ihrem Bett besteht! (Da werden diese Kinder als „entwicklungsunfähig“ abgetan, dabei gibt es welche, die sich unter diesen Umständen selbst das Gehen beibringen; das soll mal einer nachmachen…) Von diesen „liegenden“ können ein paar unsicher gehen, aber keines kann sprechen, weil keiner mit ihnen spricht.

Die Kinder aber erkennen uns, wenn wir kommen, und fangen an, vor Vergnügen zu quietschen, zu schreien und zu lachen. Sie wissen genau, was sie zu erwarten haben. Sweta zum Beispiel, die 14 Jahre alt ist, aber aussieht wie fünf, steckt ihre Beine durch die Stäbe ihres Gitterbettchens und schreit „gua, gua“, was „guljat“ heißen soll und „spazierengehen“ bedeutet. Sie möchte, dass ich sie rausnehme, sich an den Hintertaschen meiner Hose festhalten lasse und so mit ihr den Flur entlang wandere. Alleine gehen kann sie nicht. Sweta gehört zu den Kindern, die sich den langen Heimtag einigermaßen zu beschäftigen weiß. So malt sie mit den Fingernägeln Muster auf den Wachsbezug ihrer Matratze oder zerreißt ihr Bettuch, um einzelne der feinen Fädchen um die Gitterstäbe ihres Bettes zu wickeln. Sie hatte eine Phase, wo sie allen Leuten in ihrer Umgebung die Ärmel hochkrempeln wollte, ob von Hemd, Pulli oder T-Shirt, was sie kannte, weil auch ihr gelegentlich jemand die immer zu langen Ärmel hochkrempelte. Danach entwickelte Sweta eine Leidenschaft dafür, das Spielzeug in die Kiste zu sammeln, gleich nachdem wir es ausgepackt hatten.

Die wenigen Dinge, die zum Alltag im Kinderheim gehören, beherrschen die Kinder gut. Fast alle können sich auf ganz niedliche Weise Hemd und Hose an- und ausziehen (weiter haben sie nichts an), ihren Urin mit dem Bettuch aufwischen und einige versuchen sogar, nur eine Eck ihres Bettes naß zu machen und die andere trocken zu halten. Einmal hatte ich vergessen, einen Wassereimer vom Bodenwischen wegzuräumen. Schneller als ich gucken konnte, war Olga, ein Mädchen mit Down-Syndrom, auf dem Fußboden zu dem Eimer gerutscht und fing an, mit dem dreckigen, nassen Feudel den Boden zu wischen, was sie oft gesehen haben muß. Ein anderes Mal zog mir ein kleiner Down-Junge meine Schuhe aus, und als ich wenig später nach ihm sah, war er, der wohl nie in seinem Leben Schuhe angehabt hat und schon gar nicht in der Größe, dabei, sich meine Schuhe anzuziehen.

Es hat etwas gedauert, bis wir die passenden Beschäftigungen für die Kinder gefunden haben, denn was macht man mit Kindern, die ein „normales“ Leben nicht kennen, die nie gesehen haben, wie man ihr Essen kocht, ihre Wäsche wäscht? Die keine Blumen und Hunde, keine Autos kennen? Unser mitgebrachtes Spielzeug nehmen sie auseinander bis auf die Einzelteile, denn einem, der nie ein Telefon gesehen hat, leuchtet es wohl nicht ein, warum er in so einen bunten, mit Rasseln versehenen Spielzeughörer sprechen und so tun soll, als hörte er eine Antwort. Wir haben uns dann darauf verlegt, mehr mit dem zu spielen, was den eigenen Körper und ihr Leben betrifft: Wir ließen sich die Kinder baden, eincremen und kämmen, machten Fingerspiele und Reime mit Bewegungen mit ihnen, massierten und bewegten sie. Aber immer stießen wir an unsere Grenzen als unausgebildete Kräfte… Zum Beispiel versuchte ich einem Mädchen, Julija, beizubringen zu singen, weil ihr unser Singen gut gefiel und man sich beim Singen entspannen muß, was ihr gut getan hätte. Julija kann nicht sprechen, aber immer, wenn sie mich sah, verdrehte sie die Augen nach oben und quietschte mit hoher Stimme in fragendem Tonfall, worauf ich genauso antwortete. Um Julija dazu zu bringen, sich zu entspannen, sang ich immer einen Ton und bewegte meinen Kopf dabei locker hin und her. Das hatte zum Ergebnis, dass Julija daraufhin, sobald sie mich sah, quietschte, die Augen verdrehte und den Kopf schüttelte! Als sie einmal weinte, fiel mir auf, dass der Ton dem Singen schon näher kommt, und setzte meinen Gesangsunterricht fort – mit dem Ergebnis, dass Julija eine Zeitlang beim Weinen den Kopf schüttelte. Natürlich sind die Ergebnisse unserer Arbeit sehr klein, aber die Kinder haben sich ein bißchen verändert. Sie sind nicht mehr ganz so kommunikationsunfähig untereinander wie zuvor. Sie nehmen einander wahr und reagieren aufeinander, wenn auch oft nur, um um ein Spielzeug zu kämpfen. Gelegentlich helfen sie einander anzuziehen, wenn auch wohl weniger der Hilfe als dem Interesse an der Handlung wegen, aber so ein Interesse an der Umgebung ist bei Kindern in einer solchen Situation auch nicht selbstverständlich.

Sweta hat gelernt, „poka“ (=“Tschüs“) zu sagen, Olga sagt ein Wort, das ihrem Namen ähnlich ist und steckt einem ihr gespitztes Mündchen entgegen, um einen zu küssen, wenn man kommt.

Ein Vorfall der mich sehr bewegt hat, ist das Wiedersehen mit einem Mädchen namens Ljuda, mit der ich mich nur in den ersten Monaten beschäftigt hatte, bevor sie auf eine andere Station kam. Da sie laufen kann, aber sehr still und inaktiv ist, war ich mit ihr an den Händen gefasst im Raum herum gehüpft. Nun sah ich sie das erste Mal seit zwei Monaten wieder, vergessen in einer Ecke des Flurs. Ich sprach sie an, aber sie schien mich nicht zu erkennen und durch mich hindurch zu sehen. Da nahm sie plötzlich meine Hände und fing an zu springen!

Schrecklich ist immer das Mittagessen. Aus Metallschüsseln wird mit großen Löffeln den im Bett liegenden Kindern ein Mix aus Kartoffelbrei, Suppe und Hackfleisch in den Mund geschaufelt. Die Kinder schreien, bis sie zu essen bekommen, schauen beim Essen nur auf den Teller und schlucken und schlucken in Hetze – und schreien, wenn sie abgefertigt sind. Die, die stehend im Ställchen gefüttert werden, drängeln einander weg, um noch einen Löffel zu ergattern. Durch die Angst der Kinder, nicht genug zu bekommen, und die Ungeduld des Personals landet natürlich ein Großteil des Essens statt im Mund im Bett, auf der Kleidung oder in den Haaren der Kinder. Diese Atmosphäre des Gierens, des Kampfes, Geschreis und der Eile in dem ansonsten monotonen, totenstillen Alltag machen das Essen zu einem Horror.

Es ist wohl nicht nötig zu betonen, dass die Nahrung nicht abgestimmt ist auf die Krankheiten der Kinder. Das führt dazu, dass fast alle aufgeblähte Bäuche, spindeldürre Arme und Beine und Ausschläge am ganzen Körper haben. Der Ausschlag mag auch von Beruhigungsmitteln kommen.

Als wir noch auf der ersten Etage arbeiteten, war das Verhältnis von Kindern und Betreuerinnen auch noch so groß, dass ich, obwohl ich es mir oft vornahm, schon im zweiten Zimmer von fünf nicht mehr sagen konnte, das wievielte Kind ich gerade fütterte. Auf der vierten Etage ist es schon besser, obwohl auch hier der persönliche Kontakt zu jedem fehlt, denn dafür sind es einfach zu viele. Wir hatten auch immer große Probleme, die Namen der Kinder herauszufinden, weil die Betreuer, sofern sie überhaupt etwas wissen, meistens nur die Nachnamen der Kinder kennen….

Was die Atmosphäre bei der Arbeit in dem Internat stark prägte, war der ewige Streit mit dem Personal, das auf jede erdenkliche Art versuchte, unsere Beschäftigung mit den Kindern zu verhindern. Oft wurden uns Unmengen von Aufgaben übertragen, die unbestreitbar in den Arbeitsbereich der Betreuerinnen gehörten, wie z. B. Bodenwischen, Füttern und Baden der Kinder. Prinzipiell habe ich nichts dagegen, dem Personal zu helfen, aber als meine Hauptaufgabe betrachte ich die Beschäftigung mit den Kindern, da die andere Arbeit auf jeden Fall getan wird, weil sie eher der Kontrolle unterliegt als die Förderung der Kinder. Aber um sich nicht völlig mit dem Personal zu überwerfen und dem Direktor keinen Grund zu geben, uns vollends rauszuschmeißen, musste man Kompromisse schließen, was darauf hinauslief, dass ich Zimmer halb putzte, den Frauen aus dem Weg zu gehen versuchte oder tat, als verstünde ich sie wegen der Sprache nicht. Immer wieder musste man von neuem kämpfen, auch wenn man gerade das Gefühl hatte, man hätte endlich Akzeptanz erreicht. Manchmal wollte man uns gar nicht auf die Station lassen, und immer wieder wurden wir von den gleichen Leuten mit der Frage begrüßt, was wir denn wollten. Immer wieder verbot man uns mit Argumenten, wie dem, dass doch der Boden kalt und schmutzig sei (als wäre es in den Betten mit den Exkrementen wärmer und sauberer) auf der Erde zu spielen oder die Kinder auf den Arm zu nehmen. Das wirkliche Argument gegen unsere Beschäftigung mit den Kindern, das wir aber selten offen zu hören bekamen, war, dass die Kinder, nachdem sie Aufmerksamkeit bekamen, mehr fordern und so unter anderem nachts weinen, was dann statt uns die Betreuerinnen ausbaden müssen. Aber auch auf diesem Gebiet errangen wir kleine Siege, die viel Kraft gaben. Einen Tag beispielsweise, als ich mit meiner Spielzeugkiste auf die Station kam, wollte mich die einzig arbeitende Betreuerin nicht hereinlassen. Ich ging an ihr vorbei und murmelte soetwas wie „…will nur mal gucken..“. Da ließ die Frau schon etwas ab von ihrem Verbot und meinte, ich könnte ja die Kinder umziehen, und kam netterweise mit mir mit. Als wir „mein“ Zimmer betraten, schrien die Kinder natürlich gleich los, um aus den Betten geholt zu werden. Ich fing an, ein Mädchen umzuziehen und spielte dabei etwas mit ihr. Es gibt aber einen Jungen unter den Kindern, Sascha, der keine Ruhe gibt, bis er auf dem Boden herum kriechen kann. Meine Gebieterin zog ihn um und wollte ihn im Bett lassen, aber da schrie Sascha nur noch lauter. Also setzte sie ihn ins Ställchen und fragte nach einem Spielzeug aus meiner Kiste. Aber Sascha schrie weiter, so dass mich die Gute schließlich schickte, eine Decke zu holen, um Sascha auf den Boden zu setzen. Schritt für Schritt hatte sie genau das angeordnet, wofür ich kämpfte!

Was ich nie verstanden habe, war, warum das Personal, das selber über die schweren Arbeitsbedingungen in dem Internat schimpfte, in dem Augenblick, wo sie das Elend hätten aufzeigen können, die Türen schlossen. Journalisten wurden nicht hereingelassen und Kommissionen zur Überprüfung der Zustände betrogen. Gelegentlich meldeten sich solche Kommissionen kurz vorher an, worauf die Räume schnell geputzt und für jedes Kind nie benutzte Handtücher und Seifendöschen plaziert und die Kinder eilig gebadet und umgezogen wurden. Einmal habe ich es erlebt, dass einigen Kindern bei so einem Anlass Windeln umgebunden wurden, die die Kinder völlig verwirrt abrissen und untersuchten. Mit uns ging man in solchen Momenten auf verschiedene Weise um: Zunächst mussten wir natürlich Betten putzen, Kinder in Eile waschen und ankleiden. Manchmal ließ man uns dann mit den Kindern auf makellosen Decken auf dem Boden Platz nehmen, Spielzeug bunt drumherum staffiert. Andere Male zwang man uns, die Kinder ordentlich in die Betten zu setzen und es nicht zu wagen, Spielzeug auch nur zu zeigen. In den Momenten vor solchen Kommissionsbesuchen erkannte man das Personal nicht wieder: Selbst die Chefin rannte dann mit rotem Kopf in die Kinderzimmer.

Obwohl ich die Kinder alle sehr liebe und Fortschritte sehen kann, war es oft sehr hart. Manchmal saß ich zwischen diesen kleinen Wesen auf dem Boden, ohne die Kraft, gegen den Hospitalismus, die Beruhigungsmittel und das Personal anzukommen. Ich konnte nur noch heulen, als wäre das ganze Elend dieser Welt in den paar Kindern vor mir vereinigt. Es ist ein unbeschreiblich beschämendes Gefühl, das Gitter so eines Bettchens vor so einem Kind zuzumachen, um in ein gemütliches Zuhause zu gehen, während das unschuldige Kind zurückbleiben muss. Ich habe sehr gelitten unter der Frage, ob mein Tun und meine Liebe den Kindern nicht mehr weh tun als sie ihnen helfen, als zeigte ich ihnen ein Stück vom Paradies, um es ihnen sofort wieder wegzunehmen. Ein wenig hat es mir geholfen, als eine Freundin mir schrieb, dass diese Sehnsucht nach Liebe als etwas Realem und das damit verbundene Leiden für diese Kinder vielleicht einen Sinn habe, weil es sie lebendiger macht, als sie es sonst in ihrem Alltag des Dahinvegitierens wären. Trotzdem weiß ich nicht, ob ich ihnen ein langes Leben wünschen soll oder baldiges Sterben, viele neue Erfahrungen oder begrenzte Wahrnehmung, um die Trostlosigkeit ihres Lebens möglichst wenig zu begreifen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist dort in jedem Raum und schien mir ungelöster und dringlicher als irgendwo sonst. Manchmal habe ich auch an meiner Urteilsfähigkeit gezweifelt, wenn andere Menschen, denen ich von den Kindern erzählte, nicht besonders betroffen waren. Ich habe manchmal gedacht, dass ich mich vielleicht anstelle, wenn ich nachts nicht schlafen kann, ständig von meinen Kindern erzähle und keine lachenden Kinder mehr sehen kann, ohne an das Kinderheim zu denken. Ich bin mir heute nicht sicher, ob dort ein Skandal vor sich geht, aber ich weiß bestimmt, dass das, was dort menschlich passiert, ein großes Elend ist. Wir können für nicht mehr arbeiten als für ein Lächeln, aber jeder Tag ohne ein Lächeln ist ein verlorener Tag…

Ulrike Preuß, Herbst 1996

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.